Giro Paradiso — Reporter Reisen

Schon im Fahrradladen von Andrea Panconi an der Via Battisti wird mir etwas mulmig zumute. Morgen geht es mit einem ehemaligen Radprofi auf die Strecke. Domiziliano Spadi ist zwar 33 Jahre älter als ich, aber Profi bleibt Profi. Mein Fahrrad, das ich mir ausleihen will, muss deshalb top sein. Panconi bringt mir ein Rennrad mit einem Carbonrahmen. Es ist gerade mal acht Kilo schwer, auf dem Rahmen steht Panconi. Ich habe schon auf einigen Rennrädern gesessen, aber davon konnte ich bislang nur träumen. Damit könnte ich schaffen, mit dem maestro mitzuhalten. Mit einem geübten Blickt schätzt Panconi meine Größe, stellt den Sattel ein und verpasst mir ein paar gelbe Radschuhe. Treffpunkt am nächsten Tag: Hier vor dem Fahrradladen, 12 Uhr mittags.

Aber vorher will ich erst mal noch alleine trainieren. Ich schwinge mich auf das schwarze Rennrad mit den roten Reifen. Meine Hände umgreifen die schwarzen Hörner des Bügellenkers. Bevor ich aus Pistoia rausfahre, übe ich noch das Aus- und Einklicken an den Rennpedalen. Klick, klack. Im Stand klappt es gut. Das muss reichen. Ich fahre die Via Nazario Suaro aus Pistoia hinaus, in Richtung Serravalle. Das Rad schneidet sich geschmeidig durch den Wind. Ich bekomme eine erste Ahnung, wie es ist, vom Boden abzuheben und zu fliegen.

In Seravalle biege ich falsch ab und quäle mich eine 20prozentige Steigung hinauf. Immerhin ermuntern mich hupende Autofahrer. „Das kann doch nicht die von Nationaltrainer Franco Ballerini empfohlene Strecke sein“, denke ich noch und liege kurz darauf samt Rad im Gras am Straßenrand. Zum Glück nix passiert. Die Füße stecken noch immer in den Pedalen. Ich fluche, klicke mich aus und schiebe das Rad den Berg wieder hinunter.

Jetzt nehme ich die richtige Abzweigung. Die nächste Steigung lässt nicht lange auf sich warten. Ich lege den falschen Gang ein und werde von einem älteren Radfahrer überholt. Ich trete fester in die Pedalen und hole ihn ein. Lange halte ich das aber nicht aus. Ich steige ab, bevor mich der wilde Stier mit seinen schwarzen Hörnern erneut abwirft. Plötzlich steht Vincenzo Chimento neben mir und erklärt mir die Gangschaltung. „Si, si“, sage ich. Als er noch mehr Italienisch redet, antworte ich: „Non parlo l' italiano.“ Vincenzo, 70 Jahre alt, kann ein bisschen deutsch. Er hat drei Jahre lang in Hannover gelebt. Er will wissen, was ich hier mache. Ich zeige ihm meine Route. Wir beschließen zusammen zu fahren. Das Klima ist ideal zum Radfahren. „Huuuh, die Luft ist frisch, wenige Autos, Paradiiiiiiieeees“, sagt Vincenzo Chimento. Um uns herum grünt und blüht es. Der Duft von Erdbeeren kitzelt unsere Nasen. Die hohen Bäume spenden Schatten und ihre langen Ästen und Zweigen bilden streckenweise ein Blätterdach. Der Wind schlägt uns ins Gesicht als wir von Le Piastre nach Pistoia acht Kilometer bergab fahren und schließlich vor dem Haus von Vincenzo Chimento anhalten. Auch er war einmal Profi-Rennfahrer wie Spadi und so viele andere Pistoieser. Heute besitzt er noch drei Rennräder und ein Mountainbike.

Am nächsten Tag bin ich pünktlich am vereinbarten Treffpunkt. Domiziliano Spadi ist mit seinen 59 Jahren ein durchtrainierter Mann mit blauen, freundlichen Augen. Es muss alles schnell gehen bei ihm, „andiamo“ ruft er und schon fahren wir aus Pistoia hinaus in Richtung Apennin. Es ist Mittag. Wie kommt dieser Mann nur auf die Idee, bei über 30 Grad durch die Berge zu radeln?

Wir werden verfolgt. Hinter uns fahren an diesem Tag die diletanti (Amateure) des Giro d’ Italia. Die 164 Fahrer wollen von Florenz nach Modena, 174 Kilometer über den Apennin. Spadi passt sich meinem Tempo an und gibt beim ersten Berg Handzeichen, langsamer zu fahren. „Piano, piano“, ruft er. Die Straßen sind an diesem Tag wegen des Giro für den Autoverkehr gesperrt, deshalb können wir nebeneinander fahren. Plötzlich macht Spadi Zeichen zum Halten. Wir stellen uns an den Straßenrand. Ein Auto rast vorbei und hupt, jemand winkt Spadi zu. Kolonnen von Begleitfahrzeugen ziehen an uns vorbei, es ist die Vorhut des Giro. Viele grüßen und winken. Spadi kennt fast alle. Er war jahrelang Sicherheitsfahrer bei diesem Radrennspektakel. Endlich kommen die Radfahrer. Surrend zieht das Feld an uns vorüber wie ein Schwarm wilder Bienen. Spadi sagt: „Die sind alle unter 27 Jahre. Von 100 schaffen es vielleicht fünf Profis zu werden.“

Spadis Sohn Manuele hat es geschafft. Er ist Profi – wenngleich auch im Moment ohne Mannschaft. Seinem Team Cinelli OPD sprangen die Sponsoren ab, nachdem der Belgier Frank Vandenbroucke – ebenfalls ein Cinelli-Fahrer - positiv auf Kokain und Dopingmittel getestet wurde. „Manuele hatte eine schwere Krise, er war depressiv und ich habe mir große Sorgen um ihn gemacht“, sagt Vater Spadi. Seit der Sohn auf das Mountainbike umgestiegen ist und wieder Rennen fährt, geht es ihm besser.

„Radsport ist so ein schöner Sport, wie kann man den nur kaputt machen“, sagt Spadi. Er kennt den Druck, der auf jungen Radsportlern lastet. Um seine Augen herum legen sich kleine Falten, sein Blick wird starr und hart: „Ich habe allen Trainern, die mein Sohn je hatte, gedroht, dass ich sie umbringe, wenn sie ihm je Dopingmittel anbieten.“

Fünf Nachzügler fahren an uns vorüber. Mit versteinerter Miene treten sie in die Pedale. Sie keuchen während sie den Berg hinauffahren. „Ich kann es sehen, wenn jemand dopt“, sagt Spadi. Wer nicht keucht und hechelt, wer mit geschlossenem Mund die Steigungen nimmt, „mit dem stimmt etwas nicht.“

Wir hingegen entschließen uns bergab zu fahren und unseren Durst im Garten der Bar Marino Marini in Pistoia zu löschen. Spadi lehnt sein teures Rad an die Wand und schließt es nicht ab. „Hier wohnen nur gute Menschen.“

Jedenfalls solche, die großen Respekt vor dem Radsport haben. Pistoia gilt als eine Stadt mit begeisterten Radsportfans. Hier fand das erste Straßenrennen Italiens statt, 1870 von Florenz nach Pistoia; hier wurden Rennfahrer wie Serafino Biagioni oder Loretto Petrucci geboren; das Ausnahmetalent Francesco Moser wurde in Pistoia entdeckt; viele Radgrößen haben die Provinz zu ihrer Wahlheimat gemacht. „Von einigen unserer Jungen wird man noch viel hören“, sagt Spadi und nennt Namen wie Vincenzo Nibali, Giovanni Visconti und natürlich seinen Sohn.

Am nächsten Tag stehe ich im Fahrradladen von Andrea Panconi an der Via Battisti und mir ist etwas mulmig zumute. Ich habe mich in das Fahrrad verliebt. Jetzt soll ich es zurückgeben. „Was kostet es?“, frage ich vorsichtig. Ich wäre bereit, tief in die Taschen zu greifen. „Unverkäuflich“, sagt Panconi. Link

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