Trauerhilfe: Ein Zigarillo für Bastian — Frankfurter Rundschau

Für die Hinterbliebenen von Unfallopfern ist es oft sehr schwer, mit ihrer Trauer umzugehen.

Was tun, wenn das eigene Kind im Straßenverkehr stirbt? Besonders schwer ist es, wenn man sich von den Verstorbenen nicht mehr verabschieden kann. Wie Eltern mit dem Verlust weiterleben können.

Es ist ein Sonntagmorgen im Juni 2006, als Familie Schaum ihren Sohn verliert. Ein Sommer wie kein anderer: »Es war die Fußballweltmeisterschaft, Thomas war fast jeden Abend unterwegs. Er war wie ein junges Fohlen auf der Weide«, sagt sein Vater Peter Schaum. In der Partynacht von Samstag auf Sonntag schlief Thomas kaum. Am nächsten Morgen fährt er einen Freund nach Hause. Er hat noch Restalkohol im Blut. Auf seinem Nachhauseweg nickt er kurz weg und kommt von der Fahrbahn ab, prallt gegen eine Laterne, stürzt zu Boden.

Als seine Eltern den Unfallort erreichen, sehen sie ihren Sohn auf der Trage im Wagen des Notfallarztes. »Er sah aus, als würde er schlafen«, sagt der Vater. Thomas wird wiederbelebt. Sein Brustkorb hebt sich und er atmet von selbst. Er hat keine äußerlich sichtbaren Verletzungen. Vater Schaum ist zuversichtlich. Doch zwei Stunden später im Klinikum fährt ein Schock durch seinen Körper: Sein Sohn Thomas erliegt seinen inneren Verletzungen.

Gefährlicher Sekundenschlaf

Als Peter Schaum gut drei Jahre später den Vorfall in einer Schule in Hünfeld, die Thomas besuchte, erzählt, ist es still im Raum. Schaum reicht den Motorradhelm seines Sohnes herum. Nur ein paar Kratzer sieht man. Er zeigt Bilder des Unfallortes. Auch das Moped seines Sohnes sieht noch fast wie neu aus. Voll funktionstüchtig.

Peter Schaum ist mit seiner Frau Doris hier, um aufzuklären. Sie reichen auch Brillen herum, mit denen man wie ein Betrunkener sieht. Damit sollen die Schüler dann nach Bällen greifen. Immer wieder fassen sie daneben. Die Schüler sollen verstehen: Wer keinen Ball greifen kann, kann auch kein Fahrzeug mehr fahren.

Seit zwei Jahren leisten die Schaums Präventionsarbeit in Schulen. Sie wollen verhindern, dass es anderen Familien ebenso ergeht wie ihnen.

Thomas Schaum starb, weil er Restalkohol im Blut hatte und in einen Sekundenschlaf fiel. Doch auch der Sekundenschlaf alleine ist lebensgefährlich. Nach Schätzungen der Deutschen Verkehrswacht wird in Deutschland jeder vierte Verkehrsunfall durch Sekundenschlaf hinterm Steuer verursacht. So auch bei dem 22-jährigen Bastian Schäfer. Zusammen mit Freunden besucht er an Christi Himmelfahrt 2004 ein Open-Air-Konzert. Um 4 Uhr morgens helfen sie Freunden beim Bühnenabbau. Bastian Schäfer will seine beiden Freunde noch nach Hause fahren. Dafür nimmt er einem Umweg von 70 Kilometern in Kauf. Gegen 5 Uhr 20 kommt sein schwarzer Twingo von der Landstraße zwischen Riebelsdorf und Schwalmstadt von der Fahrbahn ab. Keiner der Insassen ist angeschnallt. Sie werden aus dem Auto geschleudert. Zwei überleben den Unfall dennoch – Bastian Schäfer nicht.

Tagsüber betreibt Peter Schaum sein Geschäft, bewirtet hinterm Tresen zusammen mit seiner Frau Doris Gäste. Das lenkt sie ab. Ist einer der Gäste betrunken, nehmen sie ihm seine Autoschlüssel weg, fahren ihn nach Hause. Sie versuchen, ihr Leben weiter zu leben, versuchen, für ihren zweiten Sohn Niklas da zu sein, ihn nicht zu sehr zu behüten. Als sein Bruder stirbt, ist Niklas 14 Jahre alt. Er trägt gerne dessen Klamotten. »Manchmal gab es Tage, da zog er alle fünf Minuten ein anderes T-Shirt an, abwechselnd seins, dann das seines Bruders«, sagt Mutter Schaum.

Trauer wird von jedem Menschen anders verarbeitet. Peter Schaum tritt nach Feierabend fest in die Pedale seines Fahrrads. Erst mitten im Wald löst sich ein wenig die Anspannung, Tränen kullern über sein Gesicht. »Ich konnte kaum Gefühle zulassen.« Bei einem zahnärztlichen Eingriff an seinem Unterkiefer braucht er nicht einmal eine Betäubung. »Ich habe nichts gespürt. Und das sechs Monate lang.«

Bastians Vater, Harald Schäfer, dagegen will etwas fühlen, damit er merkt, dass er noch lebt. Deswegen fährt er häufig zur Unfallstelle seines Sohnes zurück. Mal alleine, mal mit seiner Frau Ursula oder mit einer der beiden Töchter. »Ich fühle mich dort Bastian am nächsten«, sagt er. Er setzt sich neben das Kreuz, zündet sich ein Zigarillo an. Drei Jahre lang wird er nach Bastians Tod die Marke Dannemann rauchen. Als er seinen Sohn das letzte Mal sieht, läuft Bastian die Treppe hinter ihm herunter, nimmt sich eine Dannemann, bevor er sich mit den Worten »Tschüss Papa« verabschiedet. Vater Schäfer dreht den Zigarillostummel in den Boden. 15 Jahre lang hatte er nicht mehr geraucht.

Freunde wenden sich ab

Mittlerweile haben beide Familien gelernt, das Leben wieder zu genießen. Geholfen hat ihnen dabei vor allem die Begegnung mit Margit Weiser. Zusammen mit anderen Eltern gründete diese im November 2006 den Fuldaer Verein Trauernde Eltern. Auch sie hat ihr Kind im Straßenverkehr verloren. Ihre 23-jährige Tochter wurde von einem Betrunkenen zu Tode gefahren. »Anfangs war da eine unbändige Verzweiflung und Wut«, sagt sie. Ihre Arbeit im Hospiz und ihre Ausbildung zur Sterbe- und Trauerbegleiterin zeigten ihr neue Wege auf. Gemeinsam fährt sie mit den beiden Ehepaaren zu einem Ausbildungsseminar zur Trauerbegleitung. Anfangs waren die Eltern skeptisch. »So Psychogeschwafel kann ich gar nicht abhaben«, sagt Harald Schäfer. Schnell stellt er fest, dass es alles andere als das sein soll. Vor allem haben die Eltern gelernt, ihre Trauer auszuhalten, über sie zu reden oder auch zu schweigen. »Viele Freunde haben sich von uns abgewendet«, sagt Peter Schaum. »Die konnten unsere Situation nicht nachvollziehen. Dass man auch nach zwei Jahren genau das gleiche erzählt«, sagt seine Frau.

Besonders schwer ist Trauerarbeit, wenn man sich von den Verstorbenen nicht mehr verabschieden konnte. So ergeht es Peter Schaum. »Mehrere Dinge kamen an dem Tag zusammen, sodass ich sehr verärgert über ihn war.« Er redete den ganzen Tag nicht mit ihm. Monatelang macht er sich Vorwürfe wie »Hätte ich ihn doch ausschlafen lassen, hätte ich ihn doch nicht so gedrängt, die Aufgaben zu erledigen«. Schuldgefühle sägen an seinen Nerven. Das war vor drei Jahren. Heute sind seine Gedanken freier. Peter Schaum zitiert ein Elternteil aus dem Verein: »Den eigenen Tod stirbt man nur, den Tod des anderen muss man leben.«

Kontakt Bundesverband Verwaiste Eltern in Deutschland, Tel. 0341/9468884, E-Mail: kontakt@veid.de. Regionalstellen in Hessen: Trauernde Eltern und Kinder Rhein Main, Carl-Zeiss-Straße 32, 55129 Mainz-Hechtsheim, Tel. 06131/ 617265, E-Mail: TrauerndeElternRM@t-online.de. Lebens-Wege, Trauernde Eltern Heidelberg-Mannheim, Rhein-Neckar, Helga Franz-Flößer, Breitgasse 6, 69493 Hirschberg, Tel. 06201/55413, E-Mail: helga.franz-floesser@web.de. Vereine in Hessen: Trauernde Eltern Fulda, Margit Weiser, Tel. 0661/9621246, Treffen: Jeden ersten Dienstag im Monat um 19 Uhr, Mehrgenerationenhaus in Fulda. Jeden dritten Dienstag im Monat um 9 Uhr zum Frühstück in der evangelischen Gemeinde Hünfeld. Verwaiste Eltern Kassel, Gabriele Ohligschläger, Tel. 0561/281342, E-Mail: hermgab@gmx.de, Treffen: Jeden zweiten Mittwoch, 19:30 Uhr. Verwaiste Eltern im Elternverein für Leukämie- und krebskranke Kinder Gießen, Inge Hartmann, Tel. 06471/61570. Himmelslichter Hanau, Treffen Elternschule Klinikum Hanau, E-Mail: info@himmelslichter-hanau.de. Auffanggruppe Hoffnungsschimmer Wetzlar, Tel. 0641 7950979, E-Mail: katrinrehor@yahoo.de. Trauerseelsorge Weiterstadt, Tabitha Oehler, Tel. 06150/15182, E-Mail: t.oehler@trauerseelsorge.de. Gesprächskreis Trauernde Eltern Michelstadt, E-Mail: heidihuter@web.de. Verwaiste Eltern Limburg, Agnes Knott, Tel. 06431/45294.

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